Die Anderen
Die Anderen

Die Anderen

Letztens, als ich meinen kleinen Sohn zu seinem Kindertreff gebracht habe, hatte er sich geweigert seine Hände zu waschen, so wie es vor Beginn des Spielens immer gewünscht ist.

„Jetzt wasch dir bitte deine Hände, die anderen Kinder haben sich auch schon alle die Hände gewaschen“.

Die Anderen. Wie oft werden wir im Alltag dazu getrimmt ja zu sein wie „die Anderen“? Wenn wir irgendetwas anderes machen als die Anderen, dann sind wir nicht normal, nicht konform, fast schon Aussätzige. Warum ist es uns so wichtig, immer genau so zu sein wie die Anderen?

Erschreckend, wie unreflektiert ein Erwachsener mit solchen Schablonen hantiert. Auf der einen Seite muss man genauso sein wie die Anderen, auf der anderen Seite „und wenn alle anderen aus dem Fenster springen, springst du mit?“ Und wer lässt sich schon gerne von einer neuen Liebesbekanntschaft sagen, dass er „genau wie alle anderen Männer oder Frauen“ ist?

Was ist denn entscheidend dafür, ob wir jemanden dazu auffordern wie die Anderen oder eben nicht wie die Anderen zu sein? Ist es nicht unser eigener Vorteil, unsere eigene Bequemlichkeit: je nachdem, wie wir den Anderen gerade haben wollen, schmeißen wir ihm lässig die gewünschte Verhaltensaufforderung an den Kopf.

Aber was macht das mit einem Kind, wenn es immer dazu gedrängt wird so zu sein wie die Anderen? Werden nicht all die Eigenheiten, all die Besonderheiten weggewischt? Am Besten führen wir alle ein ganz normales Leben wie alle Anderen, zahlen brav unsere Steuern wie alle Anderen, verfolgen nie unsere Träume wie alle Anderen und blicken wie alle Anderen irgendwann neidisch auf diejenigen, die dann doch anders waren als alle Anderen.

Und was macht das mit unserer Gesellschaft, wenn alle immer wie alle Anderen sind? Und wer legt eigentlich fest, wie alle sein sollen? „Und wehe, du bist einmal nicht wie alle Anderen, dann rufe ich die Polizei und dann wirst du schon sehen, dass es nur in Ordnung ist so zu sein wie ich und alle Anderen!“

Ich wollte nie so sein wie die Anderen. Mich haben die vorgefertigten Muster, ausgetretenen Pfade und vorgewärmten Sitzplätze immer angewidert. Mein komplettes Schulleben habe ich dagegen angekämpft normiert zu werden und bin Gottseidank nie an diesem System zerbrochen. Viele der Anderen schon.

Nicht falsch verstehen, ich wollte nie etwas Besonderes sein und mich zwanghaft von allen Anderen absondern. Ich wollte nur selbst entscheiden, was das Richtige für mich ist. Heute habe ich eine ganz normale Familie und tue viele ganz normale Dinge wie „die Anderen“ auch, aber nur, weil ich es für mich gut finde. Und nicht, weil mir jemand befohlen hat, dass ich unbedingt ganz normal sein muss. Auf der anderen Seite mache ich auch viele Sachen, über die „die Anderen“ nur den Kopf schütteln. Bei so vielem bin ich eben nicht normal und nicht so, wie es wer auch immer gerne haben würde. Das kostet viel Selbstbewusstsein, oft dumme Sprüche und fordert Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die Anderen so denken mögen.

Und jetzt stehe ich da und erzähle meinem Sohn, er soll bitte so sein wie die Anderen. Es wäre auch nur zu bequem, immerhin muss ich mich dann nicht vor der Betreuerin rechtfertigen, warum mein Kind als einziges aus der Reihe tanzt. Es geht also nur um mich und ich falle genau in die Schablone, gegen die ich mich mein ganzes Leben lang mit Händen und Füßen gewehrt habe. Und dann fiel mir plötzlich ein, warum mein Sohn nicht einsah, sich die Hände zu waschen: erst 5 Minuten davor hatten wir uns zu Hause bereits die Hände gewaschen, weil er davor ein schönes Geburtstagsbild für seine Freundin aus der Spielgruppe gemalt hatte. So einfach wird man von einem zwei Jahre alten Kind schachmatt gesetzt.

Wie aber können wir es besser machen? Statt es uns immer nur bequem zu machen, sollten wir viel eher erklären, warum etwas sinnvoll ist. Dann ist es doch unerheblich, ob alle Anderen oder keiner es genauso macht, solange es für uns logisch ist. Ja noch viel mehr, wir selbst hinterfragen vielleicht viele Muster, die wir unreflektiert übernommen haben. Warum muss das Kind einen Helm beim Fahrradfahren tragen, der Erwachsene aber nicht? Weil wir Erwachsenen viel sicherer und geübter im Radfahren sind? Macht Sinn und wenn nicht, dann können ja auch wir einen Helm aufsetzen. Nicht aber einfach, weil alle Anderen auch einen Helm tragen.

„Wenn er sich daheim erst die Hände gewaschen hat, kann er natürlich direkt reingehen“ meinte die Erzieherin und schon waren alle zufrieden, es hatte nur die Erklärung gefehlt.

Es war also mal wieder einer der Tage, an denen mein Sohn MIR etwas Neues beigebracht hat.

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