Was in unserer Gesellschaft trotz allgegenwärtiger Klimadebatte so gut wie nie hinterfragt wird ist das Phänomen, sich an Weihnachten einen Tannenbaum ins Wohnzimmer zu stellen. Viel zu lange schon besteht diese Tradition, als dass überhaupt deren Begründbarkeit genauer untersucht wird: so lautet die offizielle Erklärung, dass sich diese Gewohnheit aus einem heidnischen Brauch heraus entwickelt hat, sich Tannenzweige im Haus aufzuhängen.
Immergrüne Pflanzen waren ein Symbol für Fruchtbarkeit und sollten so das Heim segnen und im besten Falle noch böse Geister vertreiben. Erst danach entwickelte sich der Trend, ganze Bäume zu fällen und in die Stube zu stellen. Daraus lässt sich die erste Erkenntnis ableiten, dass der Brauch des Christbaums nichts mit dem Christentum zu tun hat, sondern ein Überbleibsel in Form einer Abwandlung der Gepflogenheiten des von der Kirche gekaperten Julfestes bzw. der Rauhnächte ist.
Germanische Riten zeichnen sich durch ihre Naturverbundenheit aus, welche auch den Deutschen vor allem in der Romantik im Hinblick auf die Waldliebe zugeschrieben wird.
Hier ergibt sich die Frage, ob dieser Liebe nicht tatsächlich besser getan werden würde, würde jährlich kein massenhaftes Abroden der Tannen stattfinden.
Vielleicht aber ist es gerade die Entfremdung zur Natur, welche den Menschen dazu bewegt, ohne nachzudenken einen Baum zu fällen, um doch wieder diese Verbindung zu spüren, welche dem Menschen und wohl vor allem dem „modernen“ Deutschen innewohnt. Wie der Vater, der sein Kind nicht sehen darf und es deswegen widerrechtlich verführt, so sehnt sich der Mensch nach diesem Relikt seiner verlorengegangenen Natürlichkeit. Der holzige Geruch der Tannenzweige, der so nicht durch ein chemisches Substitut zu ersetzen ist, verankert den Homo Sapiens dorthin zurück, wo er eigentlich beheimatet ist.
Kirchengegner hingegen äußern die Anschuldigung, dass der tote Baum in der Stube den Sieg der Kirche über die Natur(Religionen) symbolisieren soll und deswegen bewusst als Weihnachtstradition inszeniert wird. Auch diese Ansichtsweise ist interessant, verdeutlicht sie auch die gewaltige Macht des menschlichen Naturbezugs, die in diesem Fall von der noch mächtigeren Kraft gebrochen werden soll, um so den Menschen ganzheitlich für sich zu vereinnahmen.
Egal, ob man selbst eine dieser Ansichten teilt, so sollte doch der Aspekt des Naturbezugs in dieser sehr achtsamen Winterzeit zur Kenntnis genommen werden. Die Kälte dieser Jahreszeit entfremdet nicht nur den Menschen ein Stück von der Natur, auch die Natur selbst zieht sich mit all ihren Pflanzen und Lebewesen zurück, geht sozusagen in sich. In diesem Metier übertrifft der zivilisierte Mensch aber noch jede andere Lebensform, indem durch warme Heizung und künstlichem Licht ein Eskapismus stattfindet, welcher eben sichtbar durch den Brauch des Christbaums ausgeglichen wird. Die alten Germanen übertrieben diese natürliche Fluchtbewegung, sondern nutzten eben jene verbliebenen Elemente der Natur, um ihrer Verbundenheit zu huldigen: Häuser wurden geräuchert, um mit der Kraft der Natur alles Böse zu vertreiben, und Tannenbäume wurden mit Nüssen und Äpfeln behangen, um Dankbarkeit zu symbolisieren.
Vielleicht sollten wir uns also unabhängig davon, ob wir uns dieses Jahr einen toten Tannenbaum, eine Plastiktanne oder gar nichts ins Wohnzimmer stellen, Gedanken machen, inwieweit wir eben diese Verbindung zur Natur noch besitzen und uns wünschen. Vielleicht war es uns ja im letzten Jahr bereits zu viel Zivilisation und Technik, und wir können die freien Tage nutzen, um durch die reinigende Kälte der Luft eines Weihnachtsspaziergangs den Kopf frei zu bekommen und neue Sichtweisen auf unser Leben zu gewinnen.
Wäre es nicht auch ein schöner Brauch, im Frühling eine Tanne im Wald zu pflanzen, um all unser Pläne und Träume zu symbolisieren, während wir zum Ende des Jahres immer bewusst all die Ziele als gestorben betrachten, welche sich im Anblick des leuchtenden Weihnachtsbaums als illusorisch herausgestellt haben?