Die Waldweihnacht
Die Waldweihnacht

Die Waldweihnacht

„Dieses Jahr müssen wir aber nicht wieder mit in die Kirche, oder?“, jammerte Maria, als ihre Mutter gerade die vierte Kerze des Adventskranzes entzündete, „Weihnachten ist ja echt cool mit den Geschenken und dem Feiern, aber diese muffige Kirche muss echt nicht sein“.

„Wenn du nicht in die Kirche gehst kriegst du auch nicht dein Geschenk von mir“, entgegnete ihr Großvater, der sich gerade einen Lebkuchen vom Tablet genommen hatte und genüsslich hineinbiss. „Heutzutage ist Weihnachten sowieso nicht mehr das, was es einmal war: früher waren so viele Geschenke nicht selbstverständlich und es ging noch mehr um das Beisammensein. Ich kann teilweise verstehen, dass die Kirche nicht der attraktivste Ort für euch jungen Leute ist, aber immerhin wird dort jedes Jahr daran erinnert, dass es an diesem Tag um mehr geht als nur Geschenke und Party, unabhängig davon, ob man gläubig ist oder nicht“, predigte Opa weiter und versuchte dabei möglichst verständnisvoll und zugleich weise zu klingen.

„Jaja, es geht darum sein Herz zu öffnen und so weiter, das weiß ich doch“, antwortete Maria daraufhin trotzig, „also zwingt ihr mich wie jedes Jahr und ich muss mitmachen, ich hab’s schon verstanden.“

Auf diese Aussage hin wechselte Marias Mutter das Thema, um die Stimmung wieder etwas zu besänftigen und einen ruhigen vierten Advent zu feiern.

Die Familie lebte noch in einer kleinen Siedlung auf dem Land, welche dennoch von den Folgen des modernen Lebens eingeholt wurde: Überall blendeten die vorbeigehenden Fußgänger grelle Werbelichter an den Straßen und jeder Gartenbesitzer versuchte seinen Nachbarn mit der prunkvolleren Beleuchtung zu überbieten. Die Menschen waren bis zum 23. Dezember unter Druck gesetzt von der wahnhaften Vorstellung in der Weihnachtszeit so viel Umsatz wie möglich zu generieren, schließlich war das Weihnachtsgeschäft die profitabelste Zeit. Doch war es wirklich ein gutes Geschäft diese wertvolle Phase des Jahres gegen hohe Umsatzzahlen einzutauschen? Im Wohnzimmer der Familie hing noch ein Bild von einem vierten Advent der Nachkriegszeit, auf dem die Großeltern noch als kleine Kinder in Lumpen gekleidet zu sehen waren. Dennoch strahlte das Foto eine ganz besondere Wärme aus, man konnte das kurze Glück in den Augen aller Personen spüren.

So rückte in all der Hektik der modernen Zeit der Heiligabend näher und näher, bis letztlich alle stressigen Vorweihnachtsfeiern in Arbeit und Vereinen abgehakt waren und der erste freie Tag am Morgen des 24. Dezember die Dorfbewohner durchatmen ließ. Es war ein überaus kalter Morgen, denn obwohl es keinen Schnee hatte wirkten die Wiesen und Wälder wie vereist. Und wie durch einen Zauber kehrte im Dorf endlich eine ruhige Stimmung ein, welche nach den letzten morgendlichen Einkäufen schließlich seinen Weg in jedes Haus fand. Viel zu schnell rannte der Uhrzeiger im Wohnzimmer der Familie, welcher sonst oft wie versteinert wirkte. So wurde es langsam dunkel an einer dieser längsten Nächte des Jahres.

Die Familie machte sich gerade fertig für die Kirche und erledigte die letzten Vorbereitungen für eine möglichst perfekte Bescherung: die Gartenbeleuchtung wurde noch einmal auf das Maximum hochgefahren, das Radio trällerte in perfekt ausgeloteter Lautstärke seine Weihnachtslieder und auf dem Herd standen bereits zwei große Töpfe mit Punsch und Glühwein, während unter dem strahlenden Weihnachtsbaum selbst viele große Pakete auf ihre zugegeben unspektakuläre Enthüllung warteten, denn jeder wusste bereits, was er oder sie von den jeweils anderen bekomme würden.

Dann tat es urplötzlich einen dumpfen Knall und alles wurde stockfinster im Haus. „Hallo?!“, schrie Mama durch den Treppenflur, „ich glaube das war zu viel Weihnachtsbeleuchtung im Garten, kannst jemand die Sicherung wieder umschalten?“.

„Das war nicht nur bei uns“, antwortete Papa aus dem genauso düsteren Wohnzimmer, „draußen bei den Nachbarn brennt auch kein einziges Licht mehr“. Mittlerweile hatte jeder in der Familie die Taschenlampe des Smartphones eingeschalten und die Familie versammelte sich im Flur, um sich über die nächsten Schritte zu beratschlagen.


„Also ich bin schon fertig, wegen mir können wir direkt in die Kirche gehen, und wenn wir zurückkommen wird der Strom schon wieder da sein“, schlug Maria vor, woraufhin die anderen zustimmend nickten. Also gingen sie gemeinsam Richtung Dorfmitte, wo die alte gotische Kirche inmitten der düsteren Weihnachtsnacht Wache hielt. Und scheinbar war Maria nicht die Einzige, die die Idee hatte in die Kirche zu gehen, denn von allen Seiten leuchteten die schwachen LED der Smartphones durch die Seitenstraßen! Bei der Kirche angekommen ging ein lautes Geschnatter los, bei dem sich nach wenigen Sekunden herausstellte, dass der Stromausfall wohl durch einen Kabelbrand ausgelöst wurde und das ganze Dorf über Weihnachten komplett ohne Strom sein würde.

Jetzt wurde es unruhig, denn viele hatten ihren Weihnachtsabend und die kommenden Tage bereits ins kleinste Detail durchgeplant. „Was mache ich denn nun mit meinem Festessen?“ hörte man hier, „Wie sollen wir denn drei Tage ohne Heizen auskommen?“ raunte es dort.

Plötzlich stellte sich ein bärtiger Mann mit grünem Jägerhut vor die Menschenmenge und rief mit lauter Stimme: „Alle mal zuhören, beruhigt euch ein wenig! Es gab schon einmal jemanden, der Weihnachten nicht im Warmen bei festlichem Essen verbringen konnte und diese Person wurde sogar an einem solchen Weihnachtstag geboren: Ja genau, Jesus selbst kam in einer kleinen Krippe neben Kühen und Schafen zur Welt! Also erinnern wir uns doch einmal, warum wir diesen Tag heute denn überhaupt feiern und versuchen wir das beste aus der Situation zu machen. Ich bin Förster im Wald nur einige hundert Meter von hier, ich habe genügend Brennholz für ein großes Lagerfeuer, ihr seid also alle herzlich eingeladen mit mir heute gemeinsam Weihnachten einmal anders zu feiern!“

Kurz war es einen Moment still, bis schließlich einer nach dem anderen die Idee befürwortete. „Ich habe bereits einen riesigen Bottich Glühwein gemacht, der reicht erstmal für eine Aufwärmrunde“, sagte eine Frau in der Menge. „Wie wäre es, wenn jeder, der ein Instrument spielen kann dieses mitnimmt und wir mit Musik für ein bisschen Stimmung sorgen?“, schlug ein junges Mädchen vor. So kamen immer mehr Ideen zusammen und es dauerte nicht lange, bis sich alle Dorfbewohner im Wald versammelt hatten. Und wie gemütlich war es hier jetzt: Die Menschen hatten viele Bierbänke und Gartenmöbel aufgestellt, die Kinder hatten den Christbaumschmuck mitgenommen und an allen Ecken an die Zweige gehängt, auf aufgestellten Baumstämmen brannten helle Laternen mit großen Kerzen und die Alten erzählten den Jungen am Lagerfeuer vergessene Weihnachtsgeschichten. Eine provisorische Band spielte bekannte Weihnachtslieder und mehr und mehr fingen die Menschen an mitzusingen und die klare Weihnachtsnacht einfach nur zu genießen.

Als die Musik für einen kurzen Moment aufhörte nutzte der Pfarrer der kleinen Siedlung die Aufmerksamkeit und begann mit kräftiger Stimme zur Menge zu sprechen: „Liebe Dorfbewohner, jetzt will ich an diesem Heiligabend, der eigentlich mein liebster Arbeitstag im ganzen Jahr ist, doch noch etwas predigen: Jedes Jahr aufs Neue versuche ich die Leute daran zu erinnern, dass Weihnachten ein Fest der Gemeinschaft ist. Es geht gar nicht so sehr darum, endlich ein paar Tage frei zu haben oder die größten Geschenke zu bekommen, sondern sich darauf zu besonnen, was uns wirklich wichtig ist. Was wäre das Leben schon ohne die gemeinsamen warmen Momente, die wir alle gleich feiern, die aber jeder doch anders wahrnimmt und fühlt? Umso wichtiger ist es, dass wir diese Zeit schätzen lernen und erkennen, dass es nicht unbedingt erst diese Anlässe braucht, um diese Gefühle in uns hervorzurufen. Es ist das Natürliche, Einfache, welches für uns wahres Glück bedeutet. Hier im Wald ist alles so simpel und bekannt, und doch hat uns heute alle ein ganz spezieller Zauber gefangen genommen. Ja, ihr habt sogar vergessen, dass ihr alle noch eine Menge Geschenke mitnehmen hättet können, aber ich sehe nicht ein einziges Paket! Stattdessen hat jeder versucht zu geben, um dieses anfangs schlechte Szenario so gut wie möglich werden zu lassen. Und jeder von euch hat dafür eine Menge zurückbekommen! Ein solch schöner Abend ist wohl das größte Geschenk, das man sich selber, aber auch den anderen machen kann. Es mag sein, dass nicht jeder von euch ein gläubiger Christ, geschweige denn ein fleißiger Kirchengänger ist, aber das spielt auch keine Rolle, denn ihr habt den Glauben mehr verstanden als all diejenigen, die nur stumpf die Texte auswendig lernen. Glaube bedeutet sich die Dinge zu erdenken, die wir nicht beweisen oder nachprüfen können. Wir haben keinen Beweis dafür, dass das gut war, was wir heute gemacht haben, aber wir fühlen, dass es gut war. Vielleicht kommt nie der Tag, an dem wir wirklich wissen, ob das so ist, aber wir haben durch unseren Glauben einen Kompass dafür, wie wir leben wollen. Ihr alle habt geglaubt, dass das gemeinsame Feiern hier am warmen Lagerfeuer besser ist, als alleine daheim im Dunkeln bei euren Geschenken zu sitzen. Nicht einer hat an etwas anderes geglaubt und ist daheim geblieben! Das bedeutet, dass wir uns selber durch unseren unterbewussten Glauben gezeigt haben, was uns wichtig ist.

Selbst ich, der sich ein Leben lang mit dem kirchlichen Glauben beschäftigt hat, habe heute etwas dazugelernt: Es gibt keinen vordefinierten Weg für sich selbst Gott zu finden, man kann ihn nicht kennenlernen in Büchern, sondern das, was wir selbst als Gott empfinden ist immer in uns und um uns: in dieser kalten Nacht in all ihrer Schönheit, im Lachen von uns allen, wenn wir einfach nur glücklich sind und in unserem Geiste, welcher uns immer wieder an diesen Tag erinnern wird.

Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir ab sofort Weihnachten jedes Jahr hier im Wald feiern, insofern der Förster einverstanden ist. Ihr könnt nächstes Jahr auch ruhig Geschenke mitnehmen, denn wir haben bereits gezeigt, dass wir jetzt gelernt haben, was für uns das Wichtigste ist! Ich wünsche euch eine fröhliche, gesegnete Weihnacht!“

Nach diesen Worten klatschten alle Menschen im Wald und manche hatten sogar Tränen in den Augen. Und so feierte die kleine Siedlung von diesem Tag an jedes Jahr ihr eigenes, ganz spezielles Weihnachten im Wald.

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