Vor einigen Jahren hatte ich mich selbst immer als „patriotisch“ bezeichnet, sogar als „nationalistisch“, insofern darunter nicht die Abwertung anderer Nationen oder Völker zu verstehen ist. Mittlerweile hat sich meine Sichtweise hierauf ein wenig geändert, weil diese Einteilungen und die daraus resultierenden Folgen für die Menschheit in fast allen Fällen fatal sind, was ich im Folgenden genauer erläutern will.
Der entscheidende Punkt meines Sichtpunktwechsels war die Frage, warum alle Elemente, welche in ihren Aktionen immer und ständig gegen das „Deutsche“ (bzw. „Nationale“ in anderen Ländern) waren doch das rechtliche Konstrukt der Bundesrepublik nicht abschaffen wollten. Warum werden offene Grenzen gefordert, nicht aber die Auflösung aller Nationalstaaten?
Die Antwort ist, dass die Nationen von verschiedenen Kräften benötigt werden, um Konflikte zu schaffen und den Menschen an seiner Entfaltung zu hindern. Wenn wir in die Geschichte sehen, lernen wir, dass die Kriege der Menschheit umso brutaler und weitläufiger waren, je mehr es tatsächlich um die „Interessen“ von Nationen handelte.
Vor allem wir als Deutsche haben eine sehr traumatische Beziehung zum Konstrukt der Nation: Anfangs bei der Reichsgründung 1871 ein Garant für Sicherheit und Frieden sowie Erfüllung der Sehnsucht nach einer Einheit der Deutschen wandelte sich der Begriff „Deutschland“ schließlich zur uns erklärten Erbsünde. In politischen Diskussionen wird man selten auf jemanden stoßen, der sich nicht nach kurzem auf eine dieser beiden Sichtweisen schlägt.
Doch warum wurden Nationen damals überhaupt begründet? Zu unterscheiden sind diese erstmal vom Begriff eines Volkes: eine weitestgehend homogene Masse erkennt Gemeinsamkeiten, welche eine schnelle Zugehörigkeit zu einer Gruppe ermöglichen. Als ich ein halbes Jahr in Russland studiert hatte war es immer schön, zwischendurch jemanden Deutsch reden zu hören und so fühlte man sich sofort verbunden, ohne einander zu kennen. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Idee des Nationalstaates wurde diese Identität praktisch genutzt, um Sicherheit und Wohlstand zu begründen. Wenn also diese beiden Aspekte untersucht werden, kann bewiesen werden, ob eine Nation noch ihren ursprünglichen Zweck erfüllt.
Die Garantie für Sicherheit ist heute obsolet, da nicht die Zahl der Soldaten und deren Ausrüstung für einen theoretischen Krieg entscheidend ist. Vielmehr könnte mit Massenvernichtungswaffen und moderner Technik auch ein kleines Land mit wenig Einwohnern gegen ein großes Land bestehen. Die Atomwaffe, Cyberkriege und Drohnenangriffe sind nur einige Schlagwörter, um zu verdeutlichen, wie unbedeutend der einzelne Mensch in dieser Frage geworden ist. Aber auch Wohlstand wird nicht mehr durch eine Nation sichergestellt, sondern in Einzelfällen sogar behindert. Die Infrastruktur Deutschlands würde sich auch nach Auflösung einer förmlichen Nation prinzipiell erhalten und staatliche Regulierungen sowie Steuern und ein aufgeblähtes Sozialsystem vernichtet sogar noch Wohlstand. Die multinationalen Konzerne kümmern sich ohnehin nicht um nationale Beschränkungen, sodass es eigentlich eine Farce ist, den Bürger mit solchen zu gängeln.
Wie würde sich also die Welt ändern, wenn die Nationalstaaten aufgelöst werden würden? Gewiss müssten wirtschaftliche Abkommen geregelt werden müssen, wobei einerseits der generelle Freihandel eine Option wäre und sich andererseits Warenbewegungen durch die Globalisierung eingependelt haben. Diese sind entweder im Falle von Ausbeutung oder Umweltschädigungen sowieso moralisch zu überdenken oder stellen einen gesunden Tausch von Produkten dar, der auf beiden Seiten den Wohlstand erhöht.
Der wohl kritischste Aspekt dieser Betrachtung ist die Globalisierung, welche durch ihre Abhängigkeiten den „kleinen“ Bürger immer wieder erpresst und in eine propagierte Verantwortlichkeit zwängt. Verhält sich ein Staat neutral, so ist er verantwortungslos, ansonsten hat für etwaige Folgen wiederum der unmündige Bürger aufzukommen, welcher stets in Sippenhaft genommen wird.
Die Vergangenheit hat zudem gezeigt, dass Staaten zur Abrüstung nicht fähig sind, was zu einer permanenten Unsicherheit führt, die zwar ohne Nationen wohl auch denkbar wäre, sich durch die viel kleineren Kreise jedoch nicht in der gesamten Welt entfachen würde. Wen würde ein Streit zwischen zwei Dörfern am anderen Ende der Welt schon stören (neben der Vermutung, dass dies sowieso täglich vorkommt, ohne, dass wir es mitbekommen)?
Zwar mag der Einwand kommen, dass sich sicherlich nicht alle Staaten der Welt gleichzeitig auflösen würden und einige damit eine Übermacht hätten, aber vor allem die neueren Kriege und Konflikte kamen genau wie jüngst in der Ukraine dadurch zustande, dass ein Staat in irgendeiner Form nicht deckungsgleich mit seiner Bevölkerung war. Tschechoslowakei, Jugoslawien, Moldawien und viele mehr: hätten diese Konflikte ohne Nationen verhindert werden können?
Dabei müssen die positiven Dinge einer Nation nicht aufgegeben werden, sondern können als verbindende Brücke zwischen verschiedenen Gemeinschaften dienen: Warum sollte nicht in Kulturen oder Mentalitäten gedacht werden? Gemeinschaften würden dann in ihrer Gemeinsamkeit Feste feiern anstatt in ihrer Gegenseitigkeit untereinander Konflikte schüren.
Dies wären dann wirkliche Wertegemeinschaften, nicht aufgezwungene Lippenbekenntnisse wie die Zugehörigkeit zur Nato oder EU. So wie die Bayern sich also den Österreichern verbunden fühlen, ohne selbst eine eigene Nation zu sein, so könnten alle denkbaren Gemeinschaften ungezwungene Symbiosen eingehen, welche eben aufgrund ihrer Ungezwungenheit nur Positives schaffen können. Vielleicht würde sich auch eine gesunde Konkurrenz herausstilisieren, bei der jeder bestrebt ist, seine eigene Identität zu verfeinern. Schopenhauer hat es in der Hinsicht trefflich beschrieben, als er meinte, dass sich nur Taugenichtse immer auf ihre Nation berufen, weil sie selbst zu keiner Leistung fähig oder zu faul dazu sind. Dieser Wettbewerbsgedanke ist es doch auch, welcher sportliche Wettkämpfe immer so interessant gemacht hat, und welcher zunehmend an Bedeutung und Spannung verliert, genau in selbigem Maße wie eine Reise in ein anderes Land immer mehr der eigenen Herkunft ähnelt. Wer reist denn allen Ernstes in ein ihm fremdes Land, wenn er am Ende bei MC-Donalds isst und seine Zeit in einem Hilton-Hotel am Smartphone vergeudet?
Ich für meinen Teil bin bereit, selbst wieder auf die Suche zu gehen nach dem, was mich eigentlich ausmacht: in welcher Gemeinschaft will ich leben, wo fühle ich mich aufgehoben, wo kann ich meinen Beitrag leisten? Ich habe zudem festgestellt, dass ich auch keine Unterscheidung vornehmen will, ob ich Bayer oder Deutscher bin, denn ich bin beides und möchte meinen Teil dazu beitragen, diese für mich als Wertegemeinschaften zu begreifenden Kulturen zu leben und weiterzuentwickeln. Eine Nation braucht es dafür nicht, sehr wohl aber das Bewusstsein, sich nicht im Namen selbiger weiter schröpfen zu lassen.
Mir ist bewusst, dass mein Ansatz eine komplett neue Denkweise ist, aber gegenteilig war sie das auch vor 200 Jahren, wo ein Mensch aus dem Süden noch überhaupt keine Vorstellung hatte, warum er plötzlich mit einem völlig fremden Menschen aus dem Norden eine imaginäre Einheit bilden sollte. Letzten Endes sind die Folgen ausschlaggebend dafür, wie wir als Menschen handeln und leben sollten, und der Versuch der Befriedung der Menschheit sollte ein erstrebenswertes Ziel für eine neue Denkweise sein.